Die Langeweile zwischen Barcelona und Burgos

Kilian ist in Barcelona! Er hat noch einen Tag „frei“, bevor wir uns in Burgos treffen. ich habe auch einen Tag „frei“, muss morgen nur noch 14km in die Stadt laufen und meinen Sohn dort aufsammeln. Und dann werden wir uns in einer engen Gasse Tapas und Wein einverleiben, bevor wir uns auf den Weg durch die Meseta machen.

Einen Tag frei machen, klingt toll:

Mal ausschlafen: geht nicht, weil ab 6 Uhr die anderen Pilger herum wuseln.

In Ruhe frühstücken: geht auch nicht, weil die unfreundliche Wirtin alle aus dem Haus haben will, damit sie putzen kann.

Einfach faul in der Sonne liegen: worauf denn? Ich habe nur ein Handtuch, das lege ich nicht in den Dreck. Liegestuhl Fehlanzeige!

Ausführlich Yoga machen: siehe Handtuchproblem (aber vielleicht finde Ich noch ein schönes Plätzchen hier im Dorf. Der Kinderspielplatz sieht vielversprechend aus, hat einen gepolsterten Boden)

Schön Fußpflege betreiben: erledigt.

Wäsche waschen und trocknen: erledigt.

Die eine oder andere Nachricht schreiben: erledigt.

Das Dorf besichtigen: erledigt.

Lesen und Hörbuch hören: bin dabei. Gleichzeitig und parallel.

Leute, es ist 10 Uhr morgens und alles wichtige ist erledigt. Was soll ich nur tun?

Es ist ja auch nicht wirklich anders, wenn man läuft: irgendwann kommt man halt an, versorgt sich und dann? Die große Langeweile kommt auf. Die allermeisten Leute fangen an zu trinken. Ich trinke sehr wenig Alkohol, deshalb fällt mir umso mehr auf, dass ganz viele (und ich muss leider wieder sagen, dass es meist die Amerikaner und Australier sind) sich am Nachmittag mit Tequila-versetztem Sangria und ordentlich Whiskey-Cola richtig was reinknallen. Da kommt der Gang schonmal ins Schwanken. Die sowieso banalen Geschichten werden immer wieder und jedesmal lauter erzählt (Geschichten im Sinn von „ich ging unter einem Baum entlang und ein Vogel zwitscherte“).

Das hat mit Smalltalk nix zu tun, das ist einfach nur sinnloses Blabla.

Zum Abendessen wird dann eine halbe Flasche Wein mit ein paar Ibuprofen zusammen geschluckt, damit man gut schlafen kann.

Es ist 10.15, was soll ich nur tun? Ich rede mich ja schon wieder in die Bewertung anderer und komme zu dem Schluss, das ich das System als einzige kapiere und durchschaue. Nein, das ist auch Quatsch, so meine ich das nicht, ich bin nur erschrocken über diesen Alkoholkonsum.

Bei meinem letzten Jakobsweg war das auch schon, dass am Nachmittag gerne mal ein Wein oder Bier getrunken wurde, aber harte Getränke habe ich damals nicht registriert. Ist der Alkohol hier so viel billiger als in Übersee und ist es deshalb so verlockend? Oder werden Trinkgewohnheiten hier einfach öffentlich ausgelebt, weil es keine Privatsphäre gibt? Mmmmh. Was meint ihr dazu?

Aber zurück zur Langeweile: ich habe nichts anderes zu tun, als mich um ein Bett zu kümmern, gutes Essen zu finden, mich zu versorgen. Kleidung nehme ich das, was noch gut riecht. Ich muss schauen, wie der Weg geht, wo die Herberge ist und dass ich die Sonnencreme rechtzeitig benutze. That’s it, egal, ob ich laufe oder nur rumhänge.

Bett finden: ich habe die nächsten 9 Tage mit 2 Ausnahmen reserviert, mal Doppelzimmer, meist Schlafsaal. Also wissen wir schon mal, wohin wir müssen.

Gutes Essen: ist gar nicht so einfach. Der Tag beginnt mit getoastetem Weißbrot, wahlweise mit Tomaten und Olivenöl oder Butter und Marmelade. Dazu Kaffee und Orangensaft. Ok, das geht. Kohlenhydrate für eine lange Wanderung…

Dann gibts ein kleines Mittagessen: Bocadillo (belegtes Weißbrot, mal mehr, mal weniger fantasievoll mit Käse, Schinken, Ei) oder Tortilla (Kartoffeln und Ei in unterschiedlichen Varianten, aber immer in gaaaaanz viel Olivenöl), Patata brava (frittierte Kartoffelecken mit scharfer Soße) usw. Viele Kohlenhydrate, viel Fett.

Abendessen Pilgermenü: für 12/14 Euro hat man die Wahl aus Salat, Knoblauchsuppe oder Paella als Vorspeise. Huhn, Schwein oder Fisch mit Pommes als Hauptspeise und Reispudding, Milchpudding oder Dosenfrüchte als Nachtisch. Dazu gibt es Wein und Wasser. Eigentlich kein schlechtes Angebot sollte man meinen, aber man merkt halt, dass auch die spanischen Wirte unter der hohen Inflation leiden. Das macht sich in der Qualität bemerkbar.

Also: wir Pilger bekommen viel zu wenig Vitamine und Ballaststoffe, dafür zu viel Brot, Kartoffeln und alles, was voll macht. Übrigens esse ich auch hier alles, ohne Rücksicht auf vegetarische Kost. Sonst würde ich ja nur von Brot und Wein leben…

Kleidung: gestern zum ersten Mal alles in einer Waschmaschine gewaschen – ach ich rieche jetzt aber fein.

Über den Weg brauche mir heute auch keine Gedanken machen, in dem 10-Häuser-Dorf werde ich nicht verloren gehen.

Ich beobachte einen Mann dabei, wie er am öffentlichen Brunnen Töpfe, Eimer und Pfannen mit Wasser füllt und wegträgt. Was er wohl damit macht???

10.45: ich glaube, ich lege mich noch ein bisschen ins Bett und schaue meinen Fingernägeln beim Wachsen zu. Hoffe, die unfreundliche Wirtin hat fertig geputzt und lässt mich in Ruhe.

Gestern hat sie uns allen nach dem Essen einen Schnaps angeboten und selbst einen getrunken. Dabei hat sie gelächelt. Wenn sie noch einen getrunken hätten, wäre sie vielleicht noch zu einer liebevollen Person geworden.

10.50: Ende