Ende der Reise und kleine Geschichten

Wir sind in Bilbao angekommen! Meine Pilger- und Kilians Wanderreise sind beendet. Es folgen noch ein paar Tage Sightseeing in Bilbao und dann ein paar Tage Entspannung in Biarritz in Frankreich, bevor wir uns endgültig auf den Heimweg machen.

Zeit für ein kleines Zwischenfazit:

Kilian bezeichnet das Ganze als Schlemmerreise – da ist schon was dran, weil wir in jeder Stadt Wein trinken und in Tapas schwelgen… er vergisst das karge Pilgeressen dazwischen.

Ich habe andere Erkenntnisse:

Der Camino de Santiago wird mehr und mehr kommerzialisiert, eine ganze Branche lebt nicht schlecht von den Pilgern, von denen die Mehrheit keine Pilger, sondern Weitwanderer sind. Da ist es kein Wunder, dass jeder was vom Kuchen abhaben will: die Gastgeber, die immer bessere und teurere Zimmer anbieten, die Barbetreiber mit den Pilgermenüs, Ladenbetreiber, die über Funktionskleidung aller Art verfügen, Apotheken mit Spezialisierung auf Pilger-Wehwehchen. Die Firmen, die die Rucksäcke transportieren, die Taxifahrer und Autobusse, die die Erschöpften weiterbringen.

Je besser die Ausstattung ist, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt der Weg, desto mehr Werbung wird betrieben, desto mehr Menschen aus aller Welt kommen hierher.

Es ist immer noch schön, hier zu gehen, aber es verändert sich doch sehr. Man wird regelrecht gezwungen, den eigenen Weg gut zu planen, Betten zu reservieren und sich dem Strom anzupassen. Sicher gibt es immer noch diejenigen, die sich, mit Isomatte und Gaskocher ausgestattet, einfach treiben lassen, aber zu denen gehöre ich nicht.

Persönlich habe ich wieder meine Grenzen gespürt, was mir guttut und wie ich meine Erkenntnisse zuhause umsetzen kann.

Ich bin dankbar, dass ich die meiste Zeit in Begleitung war! Als ich letztes Mal alleine unterwegs war, meinen Rucksack jeden Meter getragen habe und ich darüberhinaus jeden Meter gelaufen bin, hatte ich mich, rückblickend betrachtet, echt geschunden und gestresst. Diesmal war ich kaum alleine, bin auch mal mit Bus oder Zug gefahren, habe meinen Rucksack transportieren lassen und das Ganze entspannter angehen lassen. Warum auch nicht? Es ist auch mit Erleichterungen noch anstrengend genug! Und wie sagt man so schön hier: jeder geht seinen eigenen Camino!

Und damit verabschiede ich mich von meinem Camino. Ich weiß nicht, ob ich wiederkomme, jetzt erstmal ist mein Bedürfnis danach absolut erfüllt. Als nächstes Projekt werde ich dann die Alpenüberquerung angehen.

Ich möchte euch noch mitnehmen in ein paar Erinnerungen. Einige davon sind von Situationskomik geprägt, ich hoffe, ich kann sie trotzdem anschaulich beschreiben:

Ein älteres Ehepaar, das von USA nach Europa geflogen kommt, über Madrid nach Pamplona anreist. Dort besteigen sie den Bus nach St Jean (Dauer ca. 2 h), schauen dabei aus dem Fenster, erkennen, wie anspruchsvoll die Strecke wohl ist. Verbringen eine Nacht in St. Jean, der Mann kriegt über Nacht Herzprobleme. Am nächsten Tag wird beschlossen, wieder nach Hause zu fliegen. Es ist nicht zu schaffen für die beiden. Möge der Camino in Ihrem Herzen weiter existieren!

Bea und ich laufen Kilometer um Kilometer hügelauf und hügelab, vorbei an ausladenden Weiden, gesichert mit Elektrozäunen, begleitet von Kuhglockengeläute. Fast wie im Allgäu. Wir hängen so unseren Gedanken nach, setzen Schritt vor Schritt, sind im Laufen versunken. Bis Bea die entscheidende Frage stellt: sag mal, wo kommt das Kuhglockengeläute eigentlich her? Hast du hier irgendwo eine Kuh gesehen? Ich bin verwirrt, es läutet doch dauernd. Wo sonst, als von Kühen soll es denn herkommen? Nach einiger Zeit des Schauens und Lauschens stellen wir fest: es sind die Pferde! Die Pferde tragen die Glocken. Again what learned.

In einem Hostel beginne ich bei Kichererbseneintopf ein Gespräch mit einer Frau, Sharon, aus Malaysia. Sie gehört dort zu einer immer kleiner werdenden christlichen Minderheit. Auf meine naive Frage, wie es dieser Minderheit denn ginge, antwortet sie: Es ging uns schon mal besser! Daraufhin wechselt sie das Thema, sie möchte darüber nicht sprechen. Ich kann mir nur meine eigenen Gedanken machen, was diese Aussage wohl bedeutet. Und wie mag es für sie sein, zur Zeit im christlich geprägten Europa sein zu können, ohne Angst vor Ausgrenzung, vor Verfolgung und ständig unter „ihresgleichen“ zu sein.

Bea und ich kommen in Logrono an, finden auch gleich unser Hostel und schellen an der Tür. Es brummt, die Tür geht auf und wir stehen mitten in einer Baustelle. Vor uns eine grob zusammengezimmerte Holztreppe, dahinter ein Riesenschlund mit Bauschutt. Es geht meterweit nach unten. Wir schauen nochmal außen auf das Schild, sind wir hier richtig? Scheint so… also erklimmen wir die Baustelle bis in den dritten Stock mehr oder weniger über Holz, Stock und Stein. Uns wird klar, hier wird der Aufzug erneuert und deshalb ist das Treppenhaus nur ein Provisorium. Aber was für eines! Eigentlich sollte jeder, der hochläuft, mit Gurt und Helm gesichert werden. Das Hostel im dritten Stock ist absolut top!

Kilian und ich laufen durch ein typisches kleines Dorf, irgendwo in Kastilien. Eine Straße, links und rechts Häuser. Kein Bürgersteig, keine Vorgärten, nur Straße und Hauswände. Vor uns tritt ein älterer Herr aus einem Haus auf die Straße, er beginnt, direkt vor seinen Füßen mit einem kleinen Besen hin und her zu kehren. Kleine Bewegungen, immer ca. 20 cm hin und her. Wir grüssen und gehen vorbei. Als wir außer Hörweite sin,d, fangen wir beide an zu prusten: so etwas Sinnloses und Ineffektives haben wir selten gesehen. Reine Beschäftigungstherapie! Vielleicht wollte seine Frau ihre Ruhe haben und hat ihn zum Straße kehren geschickt? Wir werden es nie erfahren, aber auch nicht so schnell vergessen.

San Anton ist ein altes, verfallenes Kloster. In dieser Klosterruine existiert aber tatsächlich im einzigen überdachten Raum eine Herberge. Es gibt keinen Strom, kein fließend Wasser, gekocht wird auf Feuer, beleuchtet mit Kerzen, Wasser kommt aus dem Kanister. In der Ruine existiert so etwas wie ein Altar, zumindest hängt da ein Christus… Wir machen dort ein Mittagspäuschen und schälen ein paar Naranjas äh Orangen. Neben uns eine Gruppe Koreaner, die sowieso ein lustiges Völkchen sind und lauthals Witze machen. Sie kündigen ein Konzert an, alle halten es für einen Witz und schmunzeln. Auf einmal steht eine Frau auf, typisch für Koreaner ziemlich verhüllt, bringt sich in Position und beginnt, das „Ave Maria“ und anderes im gleichen Stil zu singen. Siehe da, das macht sie nicht zum ersten Mal. Da hat uns wohl eine ausgebildete Opernsängerin zum Staunen gebracht!

Irgendwo zwischen Sahagun und Leon. Wir laufen insgesamt 3 Tage auf einem sehr langweiligen Weg, immer geradeaus, entlang einer alten Landstraße, auf der nur 5 mal am Tag ein Auto fährt. In der Ferne sehen wir die Bahnlinie und wenn der Wind entsprechend weht, hören wir die Autobahn. Das Wetter ist auch nicht besonders schön. Morgens ist es saukalt, der Wind pfeift und so richtig warm wird es auch tagsüber nicht. Insgesamt sind es ca. 60 km, die wir so zurücklegen. Und irgendwo, irgendwann, während wir dahintrotten, fällt uns eine kleine Gestalt auf, die langsam auf der Straße läuft. Wir kommen näher: es ist ein kleiner, sehr sehr alter Mann mit Stock und einer leuchtend gelben Warnweste. Er macht ganz, ganz kleine Trippelschritte, nur immer eine halbe Fusslänge pro Schritt. Ganz gebeugt geht er dahin. Er wirkt sehr schwächlich aber als ich ihn respektvoll mit einem „Buenos dias, Senor“ grüsse, schallt es laut aus voller Kehle zurück:“Buenos Dias y Buen Camino!“ Wo, um Himmels Willen, er hin wollte und wie lange er dafür geplant hat, steht in den Sternen. Bei seinem Tempo brauchte er bis ins nächste Dorf 5 Tage, aber er wird schon irgendeinen Plan gehabt haben…

Im Dorf Reliegos gibt es einen Supermarkt. Dieser ist ungefähr so groß wie meine Küche zuhause und die Bezeichnung Minimarkt wäre treffender. Es gibt dort alles: Blasenpflaster, Sonnenhüte, Käse, Schinken, gekochte Eier, Brot, Oliven, Nudeln, Waschmittel, Katzenfutter (?), Energieriegel, Nüsse, Chips, Seife, Regenponchos, Fertigpizza, Zahnbürsten, Eis am Stiel, Chilischoten, Olivenöl, Desinfektionsmittel uvm. Alles, was ein Pilger so braucht. Und alles steht wild durcheinander. Der Ladenbetreiber ist ein netter, älterer Herr, der im Laufe seiner Verkäufer-Karriere die wichtigsten Wörter auf Englisch gelernt hat und diese fröhlich mit seinem Spanisch mischt. Heraus kommen dann Sprachschöpfungen wie: Quanto gramos quieres: uno hundred? Dos hundred? Esto es un huevo boiled. El Jamon esta very good! Necesitas una bag? Oh no, tienes una bag! Of course acepto tarjeta. (Schwer zu übersetzen, es ist eine wunderbare Mischung aus spanisch und englisch: wieviel Gramm sollen es sein? Eins hundred? Zwei hundred? Das ist ein boiled Ei. Der Schinken tastes really good.! Brauchst du eine Bag? Ach nein, du hast eine Bag! Of course kannst du mit Karte bezahlen. So ungefähr, klingt im Original lustiger…)

Angekommen in Leon, beziehen wir unser Lager im Hostel Covent Garden. Wieder im 2. Stock eines Hauses in der Innenstadt, in Sichtweite zur Kathedrale. Nicht das schönste, aber zumindest eines der herzlichsten Hostels auf dem ganzen Jakobsweg! Eine große, saubere Wohnküche, Kaffee und Tee für alle. Das Frauenbad ist mit Haarshampoo und Spülung, sowie Hygieneartikeln und Fön ausgestattet. An jedem Bett gibt es eine Steckdose und jeder Gast hat ein bezogenes Bett und ein großes Handtuch! Außerdem gibt es ein kleines Wohnzimmer. Alles ist zweckmäßig aber auch sehr skurril eingerichtet: in einer Ecke stehen Skier und Schlittschuhe, ein Lampenständer ist ein“Kunstwerk“ aus in sich verschlungenen nackten Gestalten. Es gibt Bücher in verschiedenen Sprachen und Genres (Philosophie in Taiwan, traditionelles Essen in Kamtschatka, Thomas Mann auf Portugiesisch usw). Alles ist blitzsauber und wirkt, als käme man zu Juan, dem Gastgeber nach Hause. Aber nein, er macht uns gleich zu Beginn klar, dass wir den Türcode nicht vergessen dürfen, weil er nachts nicht da ist und wir sonst auf der Treppe schlafen müssen. Juan ist schätzungsweise Ende 50, deutlicher Bauch, lange, mittlerweile ergraute schwarze Haare, Bart bis zum Bauch. Raucht wie ein Schlot und sitzt gerne in der Bar unten an der Ecke und trinkt Vino tinto. Ein herzensguter Mensch, der alle seine Gäste mit Namen kennt und will, dass es jedem einzelnen gut geht. Warum beschreibe ich ihn so genau? Beim Checkin erzählt er uns, wie oft er den Jakobsweg gelaufen ist: 19 (!) mal!

19 mal werde ich den Jakobsweg nicht laufen. Aber ich werde mich mein Leben lang an diese kleinen Ereignisse und die Menschen erinnern, die diesen Weg für alle, die ihn gehen, so besonders machen. Der Camino gibt einem das, was man braucht, um den Weg zu meistern. Und um sein Leben sinnhaft zu gestalten.

Adios – Buen Camino!