Mamma mia, here I go again

Seitdem ich auf dem Frances bin, habe ich mein Tagessoll jedesmal überschritten! Ich werde mich sehr freuen, wenn ich morgen zum ersten Mal die 3 auf dem Stein sehe, der die verbleibenden Kilometer bis Santiago anzeigt.

Ich bin auch im Wochensoll, welches mich jede Woche 100 km näher ans Ziel bringt.

Aber es ist trotzdem kein guter Tag heute.

Es beginnt schon damit, dass ich viel zu früh aufwache. Die Sonne geht erst um 8.15 auf, weswegen es keinen Sinn macht, früher aufzustehen. Als ich dann schließlich um 8.00 nach unten gehe, um einen Kaffee zu trinken, bevor ich bei Tagesanbruch loslaufe, ist alles verrammelt und dunkel. Ich bleibe nicht die einzige Hoffnungsvolle und es fragen sich bald alle, was denn los sei. Gibts nix?

Schließlich kommt der Wirt, rauft sich zeternd die Haare, gefolgt von der Wirtin , die entsprechend zerfleddert aussieht, sich aber gleich wieder laut schimpfend zurückzieht und ihrem Gatten das Feld überlässt.

Wir lachen uns insgeheim kaputt, als er uns wortreich erklärt, dass alle verschlafen haben, er doch nichts dafür könne, solange wach war und soviel Wein getrunken habe, dass er nicht gehört habe, wie der Hahn kräht.

Mann, hör auf zu labern und schmeiß die Kaffeemaschine an!

Jeder der Anwesenden kriegt eine Aufgabe: einer muss die Fensterläden und Fenster aufmachen, einer die Lichter anmachen, einer alle Türen aufsperren, einer Tische und Stühle rücken und irgendwie schaffen wir es, dass kurze Zeit später alle mit Kaffee und getoastetem Brot mit Butter versorgt sind. Sonderwünsche werden heute nicht erfüllt!

Als sich dann alle auf dem Weg machen, ist er sichtlich erleichtert und winkt jedem einzeln mit vielen Dankesrufen hinterher.

Am Abend vorher saß ich mit ein paar Leuten zusammen. Ich erfuhr, dass in ca. 200 km ein paar Herausforderungen auf mich warten: es geht auf 1800 bzw. 1500 Meter hoch und wieder runter, bevor wir durch das grüne und hügelige Galicien wandern. Die Höhe schreckt mich nicht, aber das Wetter: kalt, feucht, nebelig… ich muss mir unbedingt in Leon eine Daunenjacke (oder besser: einen Mantel) kaufen. Und Handschuhe und eine Wollmütze. Wenn ich hier bei 6 Grad laufe, ist meine Ausstattung grenzwertig dünn.

Diese Aussicht lässt mich wieder mal verzagen. Ich checke wieder mal Wetter.com und wieder steht da, dass es ab morgen wärmer wird. Auch jeden Tag das gleiche…

Beim Gehen ist für die ersten 10 km alles ok. Ich gehe leichten Schrittes, der Rucksack sitzt, ich fühle mich ganz gut. Bis auf diesen permanenten Pfeifton, den ich im linken Ohr habe…

Was ist das nur? Tinnitus? Erst nach einer längeren Weile, in der ich gründlich über die Ursachen von Tinnitus nachdenke und überlege, was das mit mir zu tun hat, checke ich, dass der Wind in meinem Ohr pfeift, ganz, ganz gleichmäßig! Ich komme mir grade so dämlich vor.

Da läuft man durch die eintönigste Landschaft, die man sich vorstellen kann und checkt den Wind nicht.

Nach einer Kaffeepause im nächsten Dorf geht es los. Beim Loslaufen tut alles weh: die Füße, Achillessehnen, linkes Sprunggelenk, beide Kniegelenke, der rechte Gesässmuskel, unterer Rücken, die rechte Schulter, Kopf, sogar die Wimpern schmerzen.

Ich muss nur noch 8 km schaffen, das ist die kürzeste Etappe der Woche! Aber ich glaube nicht, dass ich es schaffe! Und so glaube ich auch nicht, dass ich den ganzen Weg schaffe!

Vielleicht bin ich nicht dafür gemacht, diesen Weg bis zum Ende zu gehen… vielleicht kann mein Körper das einfach nicht… vielleicht passt mein Mindset nicht… vielleicht soll ich was anderes machen, was Wichtiges, was Sinnhaftes.

Ich treffe auf eine Gruppe katholische Frauen aus dem Saarland. Die laufen nur 150 km, lassen sich das Gepäck mit dem Taxi transportieren. und sind fast schon auf dem Heimweg. Gutgelaunt schreiten sie vor sich hin, quatschen und kichern. Meine Güte, seid halt leise! Ihr müsst eure Vorfreude auf zuhause doch nicht mit jedem teilen!

Gott, wie beneide ich sie!

Und es vergeht wieder. Schritt für Schritt kämpfe ich mich voran. Ich knalle mir ABBA Greatest Hits auf die Ohren und sie lassen mich die Schmerzen vergessen. Der Takt entspricht nicht ganz meinem Tempo, aber das Pfeifen des Windes ist übertönt und ich singe lauthals mit.

Ich schaffe die 18 km.

In meinem Hostal werde ich mit einem Schnaps begrüßt, der mich ganz warm macht. Die Mamma gibt mir ungefragt was zum Essen, sie waschen meine Wäsche und hängen sie auf. Ich kriege noch einen Schnaps, damit ich gut schlafen kann am Nachmittag bei der Siesta. Komisch, außer mir ist kein Pilger hier. Auf welchem Planeten bin ich denn hier gelandet?

Die Schmerzen sind wieder da. Ich werde nachher mal meine Voltarensalbe auf die Fersen reiben, zum ersten Mal. Ob ich morgen weitergehen kann? Wahrscheinlich schon. Auch wenn ich lieber hierbleiben will. Mit Essen, Schnaps und lieben Leuten, die irgendwie gespürt haben, was mir ein bisschen hilft.