In Santiago haben wir uns eine Zeit lang treiben lassen, die Sehenswürdigkeiten angeschaut, das Essen genossen. Mir waren die vielen Leute und Autos und Hektik oft zuviel nach all der Einsamkeit, die ich durchschreiten musste.
So saß ich gerne irgendwo in der Stille und Energie der Kathedrale, um mich zu besinnen und erinnern. Und vor allem, um zu realisieren: mein Weg ist zu Ende gelaufen.
Ich habe tatsächlich ein paar Leute wieder getroffen, die für ein paar Stunden oder Tage meine Begleiter waren. Das ist jedesmal eine schöne Überraschung, wenn da auf einmal jemand auftaucht, mit dem man so eine intensive Erfahrung teilen kann, sich austauscht und dann, wahrscheinlich für immer, verabschiedet.
Diese Begegnungen habe mir geholfen, wieder in der Realität anzukommen: mit jedem „Hallo“, „Hey, schön dich nochmal zu sehen!“, „Yeah, du bist hier – Gratulation!“, viel Blabla dazwischen, wie es einem erging und wie es weitergeht und der Verabschiedung „Mach es gut, pass auf dich auf, alles Gute und viel Glück!“ habe ich mehr und mehr realisiert, dass ich jetzt keine Pilgerin mehr bin! Es ist, als hätte sich mein Herz vom Camino langsam abgewandt und verabschiedet.
Es ist schon komisch! Als ich noch zuhause in der Planung war, habe ich mich nie als Pilgerin gesehen, ich wusste ja noch nicht mal, warum ich das Ganze überhaupt mache. Mit jedem Schritt auf dem Camino wurde es klarer, der Sinn des Ganzen wurde offenbar. Ich spürte ein ganz starke Verbindung zu einer höheren Macht, zu einem Schöpfer, zu den Dimensionen, die sich jenseits des Offensichtlichen zeigen. Ich wurde zur Pilgerin, auf dem Weg zum Göttlichen in mir selbst.
Jetzt wandle ich mich wieder zurück, im Moment in eine Touristin, dann wieder in Erika/Veda zu Hause. Und bin keine Pilgerin mehr! Meine Verbindung „nach oben“ ist noch da und wird hoffentlich nie mehr vergehen, aber ich komme wieder an im „richtigen“ Leben (was auch immer das ist).
Jetzt sind wir noch ein paar Tage in Finisterre, am Ende der Welt der früheren Zeit, als die Erde noch eine Scheibe war. Es ist die Verlängerung des Jakobswegs, noch 100 km nach Santiago, an der Westküste.
Volker hat zwar Wandersachen dabei, ist aber nicht gut genug ausgerüstet, die 100 km zu laufen. Deshalb fahren wir mit dem Bus. Nun, das ist nur die halbe Wahrheit! Ich kann und will nicht mehr laufen! Die Füße schmerzen, die Achillessehnen und Waden sind überreizt und verspannt, der Quadrizeps schreit bei jedem Schritt Stopp! Ich will nur noch entspannen und ausruhen.
In Finisterre wohnen wir in einem netten Hotel, besuchen den Leuchtturm und schauen auf den Atlantik. Außerdem gibt es viel zu erzählen…
Und als letzten Beweis für mein wieder-ankommen gibt es die Geschichte mit dem Regenschirm:
Ich habe den Regenschirm schon erwähnt, dieses unsinnige Ding. Unsinnig war, wie ich jetzt feststelle, nur ich!
In all den Wochen des Pilgerns habe ich den Schirm ganze 3 mal ausgepackt! Er war so am Rucksack befestigt, dass ich ihn mit einem Griff nach hinten rausziehen und innerhalb von Sekunden öffnen konnte. Perfekt!
Es gab an den Tragegurten des Rucksacks Befestigungsclips, die ermöglichen sollten, den Schirm ohne Hände zu tragen. Theoretisch. Aber egal, wie ich ihn befestigte, ich musste ihn dennoch mit einer Hand irgendwie halten, weil er sonst kippte und mir die Sicht versperrte. Oder er rutschte nach unten und ich stieß mit dem Kopf an und die Haare verhedderten sich im Gestänge. Wer mich kennt, weiß, dass ich in solchen Dingen eher ungeduldig bin und dazu neige, Aggressionen am Übeltäter auszulassen.
Irgendwo weit hinten im meinem Kopf war zwar mal der Gedanke „da stimmt doch was nicht“, ich folgte diesem Gedanken jedoch nicht und wenn die Sonne wieder schien, war alles rund um den Schirm vorbei und vergessen. Er steckte jedoch wie der stiller Mahner gut sichtbar am Rucksack.
Jetzt ist mein Pilgern zu Ende und es regnet jeden Tag mehrfach, jedesmal überraschend und ausgiebig. Nicht lange, aber lange genug, um unangenehm zu sein.
Gut, dass ich einen Schirm dabei habe, jederzeit einsatzbereit! Und da ich keinen Rucksack mehr trage und nur spazieren gehe, besteht auch keine Not mehr, ihn zu befestigen. Ich trage ihn einfach.
Und was stelle ich auf einmal fest! Er hat eine Teleskopfunktion! Die Stange lässt sich verlängern! Hätte ich dies vor 6 Wochen herausgefunden, wäre mir einiges an Ärger mit dem Schirm erspart geblieben, ich hätte ihn stabil befestigen können und er wäre vielleicht ein treuer Freund geworden.
Aber besser spät als nie! Hier am Ende der Welt ist er ein guter Begleiter und ein Zeichen dafür, dass ich wieder alle meine Sinne beieinander habe und mein Verstand wieder praktisch funktioniert, anstatt ständig in der geistigen Welt zu flanieren.
Teil 3 folgt!