Oh Gwythinda, ich denke an dich

Ich bin in Galizien, mein Ziel schon fast vor Augen! Nein, nicht wirklich, aber es hat sich viel verändert:

Die Kilometerangabe ist nicht mehr in großen, gut zu erkennenden Zahlen angegeben, sondern auf kleinen Plaketten, die man je nach Sonnenstand lesen kann oder auch nicht. Aber die entscheidende Veränderung ist:

Ich bin seit heute 2-stellig! Unter 100 km!

Das bringt einige weitere Änderungen mit sich:

Dies ist die Strecke, die für das Ausstellen der Pilgerurkunde gilt. Es spielt keine Rolle, wieviele km jemand bis dahin gelaufen ist; die letzten 100 km müssen nachweislich über Stempel im Pilgerpass belegt sein. Die muss man ohne Unterbrechung gelaufen sein!

Diese hat zur Folge, dass jetzt viel mehr Leute hier unterwegs sind, die eben erst in Sarria angefangen haben.

Es sind vor allem Spanier, die ausländischen Pilger werden immer weniger. Ich frage mich, wohin die alle verschwunden sind… oder sind sie inmitten der spanischen Horden unsichtbar geworden!?

Aus dem ach so stillen Pilgerweg ist eine optimierte Wanderroute geworden.

Ich werde jetzt mal ein paar Klischees bedienen (verzeihe mir bitte, liebe spanische Leserin, falls es dich gibt):

Spanier pilgern/wandern in Gruppen.

Weil sie sprachliche Vorteile haben, brüllen sie einfach, wenn sie was wollen und unsereins, der geduldig wartet, hat das Nachsehen.

In der Gruppe wird pausenlos, unaufhörlich geplaudert. Da Spanier temperamentvoll sind, quatschen sie lautstark über mehrere Meter hinweg und rufen sich gegenseitig was zu, was dann auch wieder ausführlich beantwortet wird.

Sie wollen offensichtlich möglichst schnell in ihrem Zielort ankommen, deshalb rennen sie fast. Die Männer tragen gerne Jeans oder Jogginghosen, die Frauen sind in schicke Sportleggings gekleidet und duften gut… (die Pilger haben eher richtige Outdoorbekleidung an.) Da diese Kleidung aber nicht so richtig für lange Touren geeignet ist, müssen sie ständig stehen bleiben und was richten: Hose hochziehen, Schuhe von Steinchen befreien, anders schnüren, da rumzippeln und dort rumzurren.

Sie haben auch keine großen Rucksäcke, sondern schöne, bequeme Rollkoffer, die mit dem Auto transportiert werden. Sie tragen also nur kleine, leichte Daypacks. Deshalb sind sie auch so schnell unterwegs…

Aber das erstaunliche ist, dass dies gar nicht effektiv ist! Sie kommen nicht vor mir an…

So, Klischees Ende, Gefauche auch! Ich komme zum eigentlichen Kern dieses Blogs:

Wie ich schon öfter beschrieben habe, ist der erste Teil des Weges der physische Teil, der zweite der mentale Teil und das letzte Drittel die spirituelle Offenbarung: und irgendwie, ich weiß selbst nicht, wie, habe ich mit dem ganzen Trara meinen Frieden gemacht. Diesen Weg voller palavernder Spanier kann ich leichten Herzens dazu nutzen, ganz bei mir zu bleiben, alles um mich herum auszublenden und meinen Weg zu vollenden.

In mir ist eine sagenhafte Leichtigkeit eingekehrt, die sich fantastisch anfühlt.

Entweder es liegt daran, dass sich dieser Weg tatsächlich dem Ende zuneigt oder daran, dass ich innerlich Prozesse nicht nur anschieben, sondern auch bewältigen konnte. Oder beides.

Und jetzt zu Gwythinda:

Ich habe sie vor längerer Zeit schon kennengelernt. Gwythinda kommt aus Irland, ist nur wenig älter als ich und sie war mit ihrem Partner unterwegs. Sie musste leider einsehen, dass sie den Camino nicht schaffen würde, mittlerweile ist sie wahrscheinlich irgendwo in der Sonne Südfrankreichs und lässt es sich gut gehen. Sie hat jeden Schritt des Caminos gehasst und sich tagein, tagaus gequält.

Als wir uns unterhielten, sagte sie mir: Erika, you know, what: my mind is heavy, my body is heavy, my bloody rucksack is heavy, I don‘t need to walk a fucking heavy way, do I?

Recht hat sie!

Ich denke mir mindestens einmal pro Tag, fuck it! und denke an Gwythinda. Und dann gehe ich weiter. Nur noch bis zum nächsten Ort. Noch einen. Noch einen. Usw. Angekommen. Alles schmerzt. Ich denke, morgen laufe ich nicht. Ich fahre mit dem Bus. Mit dem Taxi. Dann esse und dusche, versorge mich und denke, vielleicht laufe ich morgen doch. Dann schlafe ich, stehe wieder auf und laufe.

Und dann erfahre ich wieder die Leichtigkeit, die Sinnhaftigkeit, die Essenz des Lebens, die mir der Camino gibt.